Landesrabbinerschule Budapest

 

 

 

Landesrabbinerschule Budapest

Landesrabbinerschule Budapest um 1890

(Quelle: Budapest City Archives HU_BFL_XV_19_d_1_05_161)

 

 

Ausstellung und Restitutionsveranstaltung in Heidelberg

Im März und April 2023 wurden die bisher in Heidelberg identifizierten Bücher des Budapester Rabbinerseminars in einer Ausstellung gezeigt.

Anhand zweier Exemplare wurden die Wege der Bücher nachgezeichnet:

Plakat Ausstellung

 

Im Rahmen der Restitutionsveranstaltung am 26.04.2023 referierte Dr. Balázs Tamási über die Geschichte des Seminars und seiner Bibliothek.

Vortrag Dr. B. Tamási

 

Im Anschluss daran wurden die 17 Bände (Vitrine) offiziell an die Verantwortlichen des Rabbinerseminars (Dr. Tamás Biró, Dr. Gábor Balázs und Dr. Balázs Tamási) übergeben.

Restitution Budapest OR-ZSE

 

Link zum Budapester Rabbinerseminar, dem Jewish Theological Seminary – University of Jewish Studies, Hungary / Országos Rabbiképző-Zsidó Egyetem:

Logo Budapest Rabbinerseminar

 

 

Bericht zur Restitution auf der Webseite des Budapester Seminars.

 

 

(gegr. 1877)

 

Charakteristisch für den Nachlass des Rabbiners Emil Davidovič ist, dass fast alle letzten rechtmäßigen Eigentümer der darin enthaltenen Bücher in der Tschechoslowakei der „Ersten Republik“ und im damaligen Deutschen Reich zu verorten sind.

Daher schien es zunächst verwunderlich, wie bisher 17 identifizierte Exemplare des Budapester Rabbinerseminars Eingang in diesen Bestand gefunden hatten. Dieser Sachverhalt lässt sich mit der besonderen Stellung des „Protektorats Böhmen und Mähren“ in den letzten 12 Monaten des Zweiten Weltkriegs erklären.

Kulturgut, das die Nationalsozialisten vor Luftangriffen der Alliierten zu schützen suchten, wurde in abgelegene Regionen verbracht (Bergwerke oder abgelegene Schlösser). Die besetzte Tschechoslowakei galt auch als ein Gebiet, in das geplünderte reichsdeutsche Bibliotheken verfrachtet worden waren. Als Lagerorte dienten einige Schlösser des Sudentengebietes und das Ghetto in Theresienstadt. Parallel dazu wurde in Prag massenhaft Eigentum von jüdischen „Protektoratsangehörigen“ zusammengezogen – dies geschah über die sogenannte „Treuhandstelle“. Kulturelle und akademische Einrichtungen wurden, sofern sie nicht verboten waren, trotz des Kriegsgeschehens am Laufen gehalten und dazu zählte auch das Jüdische Museum in Prag. Die vorhandene Infrastruktur und das Know-How der dort Beschäftigten machten sich die Nationalsozialisten zunutze und so wurden unter Zwang Zehntausende enteignete Objekte in den Museumsbestand eingearbeitet, darunter Kunstgewerbe, Akten, Kultgerät aber vor allem Bücher.

So schien es aus Sicht der Besatzer naheliegend, die 1944 in Budapest von der SS geplünderten Bücher zunächst ins „Protektorat“ zu bringen, um sie nach dem vermeintlichen deutschen Sieg in eines der reichsdeutschen Institute zur „Gegnerforschung“ zuzuführen.

In einer Blitzaktion wurde Ungarn am 19. März 1944 überfallen.  Auf seinen bisher gesammelten Erfahrungen aufbauend, war auch hier Adolf Eichmann mit der Aufgabe betraut worden, die Deportation der jüdischen Bevölkerung Ungarns in die Todeslager zu organisieren. Darüber hinaus wurden unzählige Ungarinnen und Ungarn zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt. Auch in der Tschechoslowakei war der Aus-, bzw. Neubau von Rüstungsbetrieben in Planung, in denen ungarische Zwangsarbeiter eingesetzt werden sollten.

Von Amtswegen aber möglicherweise auch aus persönlichem Antrieb zeigte Eichmann Interesse für Hebraica und Judaica. Die Beschäftigung mit der „Gegnerforschung“ war ein prestigeträchtiges Tätigkeitsfeld und verschaffte – unter anderem Eichmann – die Befugnis, sich das dafür notwenige Material anzueignen. Auf diese Weise lässt sich auch erklären, warum sich Eichmann aus dem bereits damals renommierten Budapester Rabbinerseminar den Bibliothekskatalog aushändigen ließ und mehrere Hundert Bände auswählte, die er vermutlich direkt ins „Protektorat“ schaffen ließ.

Am Tag nach dem Einmarsch in Ungarn beriefen Hermann Krumey und Dieter Wisliceny, die die praktische Umsetzung der Deportationen durchzuführen hatten, die Funktionäre der jüdischen Gemeinden in Ungarn nach Budapest, um eine Art Zentralrat, bzw. Judenrat einzurichten. Dieser sollte, vergleichbar dem „Ältestenrat“ in Prag, den Besatzern zuarbeiten und als Schnittstelle zwischen diesen und den (Zwangs-)Mitgliedern der Gemeinde fungieren.  Auch Eichmann erschien vor dem Zentralrat und hielt eine Rede: „Am Rande bemerkte Eichmann, dass er für seinen Teil sich sehr für die jüdischen Reliquien und Bibliotheken interessiert. Seit 1934 beschäftigt er sich mit Judenfragen und spricht gut hebräisch. Er wird das jüdische Museum, in dem viele Antiquitäten aufbewahrt werden, und die Bibliotheken besichtigen, man solle ihm einen Führer benennen…Alles, was in Anspruch genommen wird, wird bis ins kleinste [sic] aufgezeichnet, später wird man es anhand des Inventars wieder zurückgeben beziehungsweise vergütet…nach dem Krieg werden die Deutschen wieder die alten gutmütigen Leute und werden wieder alles gestatten wie früher…“ (Stenoaufzeichnung der Rede Eichmanns durch Dr. Ernő Boda (Rückübersetzung); Levai, S. 79 f.)

Eichmanns Kalkül in diesen Worten zielte vorrangig darauf ab, deeskalierend auf den Zentralrat und seine Funktionäre und damit auf die gesamte jüdische Bevölkerung Ungarns einzuwirken. Ein Aufbegehren sollte unter Ausnutzung aller taktischen Mittel verhindert werden. Ob Eichmanns Interesse für jüdisches Kulturgut ein geheucheltes war oder nicht, ändert freilich am Akt der Plünderung selbst nichts, kann jedoch ein Licht auf seine Beweggründe und Vorgehensweisen werfen.

Das Rabbinerseminar – gegründet 1877 als Landesrabbinerschule – wurde von den Nationalsozialisten konfisziert, und der Lehrbetrieb wurde aufgehoben. Stattdessen diente das Gebäude als Gefängnis und als Durchgangslager für Budapester Jüdinnen und Juden. Noch vor der Kapitulation des Deutschen Reichs konnte das Seminar seine Pforten wieder öffnen. In den wenigen Monaten, die zwischen Schließung und Wiedereröffnung der Einrichtung lagen, ermordeten die Nationalsozialisten mit Unterstützung der ungarischen Behörden über 560.000 ungarische Jüdinnen und Juden.

Kurz vor Kriegsende stürzte das Dach des Seminars nach einem Luftangriff ein und ein großer Teil des verbliebenen Bestandes wurde – in der Folge auch witterungsbedingt – vernichtet. Es dauerte bis in die 1970er Jahre bis in Prag durch Dr. Otto Muneles mehrere Hundert Bücher des Seminars identifiziert und ihre „Entdeckung“ publik gemacht wurde. Die Rückgabe erfolgte schließlich während und nach der „Samtenen Revolution“.

Die in Heidelberg identifizierten Bücher gelangten bereits in den 1960er Jahren in die Bundesrepublik Deutschland und können nun in Budapest den Bestand der „Eichmann-Beute“ ergänzen. Die weiteren noch vorhandenen Exemplare sind heute weltweit verstreut und lassen sich unter anderem in Bibliotheken und Auktionskatalogen nachweisen.

Unter den nun restituierten Bänden befanden sich 4 hebräische Drucke des 16. Jahrhunderts, die zu den bedeutendsten Exemplaren der Heidelberger Bibliothek gehörten. Diese, aber auch die übrigen Bücher, können neben ihrer physischen Rückführung auch einen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte und zur Geschichte des Rabbinerseminars leisten, beinhalten sie nicht nur handschriftliche Anmerkungen, sondern auch Widmungen und Besitzvermerke ihrer Vorbesitzer.

Vor ihrer Rückgabe waren die Bücher im Rahmen einer Ausstellung in der HfJS letztmalig zu sehen. Am 26. April fand dort die Übergabe an die Verantwortlichen des Seminars statt. Es war uns eine ganz besondere Ehre, zu diesem Anlass Herrn Dr. Balázs Tamási für einen Vortrag zu gewinnen, den er der Geschichte seiner Institution und ihrer Bibliothek widmete.

Die folgenden Bücher wurden restituiert und es ist nicht auszuschließen, dass in den noch unbearbeiteten Beständen unserer Bibliothek künftig weitere identifiziert werden:

 

Melamed, Raphael Hai: The Targum to canticles according to six Yemen mss. Compared with the "Textus receptus" as Contained in de Lagarde's "Hagiographa chaldaice", Philadelphia 1921.

Scholz, Paul: Die heiligen Alterthümer des Volkes Israel. 2, Die Cultuszeiten und Cultushandlungen des Volkes Israel, Regensburg 1868.

Bacher, Wilhelm: Die Bibelexegese Moses Maimuni's, Straßburg 1897.

Weiss, Adolf: Mose ben Maimon. Führer der Unschlüssigen, Leipzig 1924.

Giesebrecht, Friedrich: Die Geschichtlichkeit des Sinaibundes, Königsberg 1900.

Zweig, Arnold: Neun Holzschnitte zu ausgewählten Versen aus dem Buche Jeschu ben Elieser ben Sirah / Jakob Steinhardt, Berlin 1929.

Sonnenfels, Alois von: Sendschreiben des hochedelgebohrnen Herrn Aloysius von Sonnenfels...über zwey hebräische Wörter Chartumim und Belahatehem…, Wien   1786.

Kennedy, James: The note-line in the hebrew scriptures. Commonly called Pāsēq, or Pěsîq, Edinburgh 1903.

Duckesz, Eduard: Chachme Ahw. Biographien und Grabsteininschriften der Dajanim, Autoren und der sonstigen hervorragenden Männer der drei Gemeinden Altona, Hamburg, Wandsbek, Hamburg, 1908.

Ḳazim, Shemuʾel ben Mosheh:  ספר מקור חיים : ביאור על התורה , Mantua 1559.

Verzeichnet auch im Katalog der Bibliothek Lelio della Torre (Vorbesitz): https://www.nli.org.il/en/books/NNL_ALEPH990023050030205171/NLI, Nr. 389, Digitalisat 27.)

ben Yitsḥaḳ, Shelomoh u.a.: תלמוד בבלי. עם פירוש רשי ותוספות ופיסקי תוספות ורבינו אשר ופירוש המשניות מהר"מבם

מסכת מגילה / מסכת פסחים, Venedig 1548/49 + 1549/50.

Vergleiche einen anderen Band dieser Ausgabe in der NLI: https://www.nli.org.il/en/books/NNL_ALEPH990021077750205171/NLI

Haarbrücker, Theodor Friedrich: Rabbi Tanchum Jeruschalmi. Arabischer Commentar zum Buche Josua, Berlin 1862.

Tsahalon, Yom Tov: ספר שאלות ותשובות, Venedig 1694.

Schück, Bernat: דת ודין  Religion und Staat. Eine Studie, Temesvár 1904.

Bloch, Moses: Die Civilprocess-Ordnung nach mosaisch-rabbinischem Rechte, Budapest 1882.

Maimonides, Moses: משנה תורה (vol. 3), Venedig 1574.

Maimonides, Moses: משנה תורה (vol. 4), Venedig 1576.

(Dieser Band enthält keinen Hinweis auf den Vorbesitz von Lelio della Torre, doch ist dieser Titel auch in Torres Bibliothekskatalog gelistet: https://www.nli.org.il/en/books/NNL_ALEPH990023050030205171/NLI, Nr. 292, Digitalisat 22)

 

 

 

Ausgewählte Literatur

 

Carmilly-Weinberger, Moshe (Hg.): The Rabbinical Seminary of Budapest 1877-1977. A Centennial Volume, New York 1986.

Cesarani, David: Adolf Eichmann. Bürokrat und Massenmörder. Biografie, Berlin 2004.

Gerlach, Christian und Götz Aly: Das Letzte Kapitel. Realpolitik, Ideologie und der Mord an den ungarischen Juden 1944/1945, Stuttgart und München 2002.

Grendler, Paul F.: The Roman Inquisition and the Venetian press 1540-1605, Princeton 1977 (bezüglich der Bücherverbrennungen, von denen u.a. die o.g. Talmudausgabe verschont blieb).

Lévai, Jenő (Hg.): Eichmann in Ungarn. Dokumente, Budapest 1961.

Remete, László: Egy visszahozott hadizsákmány [Eine zurückgeschaffte Kriegsbeute]. In: Magyar Könyvszemle [Ungarische Bücherschau] 109 (1993) S. 419-429.

Scheiber, Sándor: Zsidó könyvtárak sorsa a német megszállás alatt [Das Schicksal der jüdischen Bibliotheken während der deutschen Besatzung]. In: Magyar Könyvszemle [Ungarische Bücherschau] 86 (1970) S. 233-235.

Torre, Lelio della: Catalogue de la bibliothèque hébraico-judaïque de feu Monsieur le professeur Lelio Della Torre, Padua 1872.

Zschommler, Philipp: Eichmann in Budapest, Weblog Retour – Freier Blog für Provenienzforschende [Internet], 12.04.2022, https://retour.hypotheses.org/2519

 

Fabian Handbuch: https://fabian.sub.uni-goettingen.de/fabian?Landesrabbinerschule(Budapest) (dort auch weitere Quellen)

Artikel in Menora Egyenlőség 1979:

https://library.hungaricana.hu/hu/view/Menora_1979_2/?query=%22lelio%20della%20torre%22&pg=81&layout=s

Artikel in Newyorki Figyelő 1979:

https://library.hungaricana.hu/hu/view/NewYorkiFigyelo_USAHUN_1979/?query=%22lelio%20della%20torre%22&pg=112&layout=s

 
 

(Text: Ph. Zschommler)

Letzte Änderung: 20.02.2024