Marie-Anna Jonas

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Exlibris Mädchenschule

Das hebräische Motto des Exlibris  (נר ה' נשמת אדם) zitiert Mischle/Sprüche Salomos 20,27a

 

(1893 Fischhausen – 1944 Auschwitz)

 

Der Büchernachlass des Rabbiners Emil Davidovič, der sich heute in der Heidelberger HfJS befindet, besteht zu einem erheblichen Teil aus NS-Raubgut, das im damaligen sogenannten Protektorat Böhmen und Mähren aus unterschiedlichen Quellen zusammengetragen worden war. Die Biographien der Eigentümer, deren Namen wir in den Büchern finden, erlauben es in vielen Fällen, die Umstände des Entzugs zu rekonstruieren. Dass viele dieser Eigentümer Insassen des Lagers Theresienstadt waren, lässt den plausiblen Schluss zu, dass es sich um deren mitgebrachte Bücher handelt. Hinsichtlich der verfolgten und beraubten Einwohner der von den Deutschen besetzten Tschechoslowakei liegen noch weitere Möglichkeiten vor, wie die Bücher in unseren Bestand kamen. Bei dem hier aufgefundenen Buch aus dem Besitz der Marie-Anna Jonas ist der Sachverhalt jedoch erstmals direkt belegt und zwar für einen Lagertransport aus dem sogenannten Altreich.

 

Dr. M Jonas VI/2-325

 

So lautet der handschriftlich mit Tinte ausgeführte Eintrag im „Quellenbuch zur jüdischen Geschichte und Literatur“ (Frankfurt a. M. 1928). Bei der Ziffernfolge hinter dem Namenszug handelt es sich um die Transportnummer, die Dr. Marie-Anna Jonas aus Hamburg kurz vor ihrer Deportation am 19. Juli 1942 nach Theresienstadt zugewiesen bekam. Mit im Transport waren Ihr Ehemann Dr. Alberto Jonas (1889-1942) sowie deren gemeinsame Tochter Esther (1924-2016).

Die Lebenswege der Familie sind in der Hamburger Geschichtsschreibung relativ gut dokumentiert, was einerseits dem Engagement vieler HistorikerInnen und historisch Interessierten zu verdanken ist, aber auch der unermüdlichen Bereitschaft der überlebenden Esther (verheiratete) Bauer, ihre eigenen Erinnerungen ausführlich zu schildern. Daher sei hier auf die unten angeführte Sekundärliteratur verwiesen.

Marie-Anna (Jonas, geb.) Levinsohn kam im ostpreußischen Ort Fischhausen zur Welt, verbrachte den größten Teil ihrer Kindheit und Jugend aber in Königsberg. Sie beabsichtigte zunächst, den Lehrberuf zu ergreifen und verbrachte im Zuge ihrer Ausbildung auch einige Zeit in England und Frankreich. Während des Ersten Weltkriegs war sie als Krankenschwester im Einsatz. Vermutlich aus diesen Erfahrungen heraus entschied sie sich, die Hochschulreife zu erwerben und in Königsberg Medizin zu studieren (Promotion 1922/23). Im Jahr 1923 heiratete Marie-Anna den in Breslau aufgewachsenen Lehrer und Altphilologen Dr. Alberto Jonas, der im Jahr zuvor an der Hamburger Talmud Tora Realschule seinen Dienst angetreten hatte. 1924 wurde Alberto Jonas zum Leiter der Israelitischen Töchterschule ernannt, an der Marie-Anna Jonas die Funktion der Schulärztin ausübte sowie Vertretungen für die naturwissenschaftlichen Fächer übernahm.

Mit dieser Schule können wir eventuell das Exlibris in Verbindung bringen, welches sich ebenfalls im Buch befindet:


EX LIBRIS

MÄDCHENSCHULE D.I.G.

נר ה' נשמת אדם

Bücherei-Stiftung M. Lessmann s. A.

 

Das Exlibris wirft noch einige Fragen auf, da zu der darin genannten Stiftung bisher keine weiteren Informationen ermittelt werden konnten. Bei dem Stifter handelt es sich um den Hamburger Verleger Max Lessmann (1859-1926), der unter anderem das weit verbreitete Israelitische Familienblatt herausgab. Die ab 1901 darin erschienene Beilage Blätter für Erziehung und Unterricht wiederum diente als Sprachrohr des Verbandes der jüdischen Lehrervereine im Deutschen Reich. Im Interesse der Deutsch-Israelischen Gemeindebundes D.I.G. bzw. auch D.I.G.B.) wurde dieser Verband 1895 ins Leben gerufen, um die unzähligen bisher existierenden regionalen Lehrervereine zusammenzufassen. Lessmanns Engagement für eine Verbesserung und Standardisierung des jüdischen Schulwesens schlägt sich somit nicht nur in der verlegerischen Tätigkeit nieder, sondern auch in der o.g. Stiftung, mit deren Hilfe offensichtlich Mädchenschulen im Deutschen Reich mit Büchern ausgestattet werden konnten. Wir können nur vermuten - und die räumliche Nähe macht es plausibel, dass eben auch die Hamburger Israelitische Töchterschule mit Büchern aus dieser Stiftung bedacht worden war. Wann dies geschah, ist noch unklar. Der im Exlibris hinter Lessmanns Namen angeführte Zusatz s.A. (seligen Angedenkens) verweist auf ein Entstehungsdatum nach Lessmanns Tod im Jahr 1926. Im Jahr 1942 endet die letzte der degradierenden Etappen der Mädchenschule und am 19. Juli schließt sie mit der Deportation von Marie-Anna, Alberto, Esther Jonas und vielen anderen endgültig ihre Pforten.

Wir können annehmen, dass Marie-Anna Jonas aus der beschlagnahmten Bibliothek der Schule dieses und andere Bücher im Gepäck hatte. Schrieb sie ihre Transportnummer bereits vor der Abfahrt in das Buch? Oder tat sie das in Theresienstadt, als sie feststellen musste, dass Privateigentum im Lager ein Luxusgut darstellte? Vor wenigen Jahren noch hätte uns ihre Tochter Esther sicherlich diese und weitere Fragen beantworten können.

Alberto Jonas starb bereits 5 Wochen nach seiner Ankunft in Theresienstadt. Dr. Irma Goldmann, die im Krematorium des Lagers ununterbrochen mit Obduktionen beschäftigt war, bescheinigte in ihrem Sektionsprotokoll (3 Stunden nach dem Ableben Alberto Jonas‘) neben zahlreichen anderen Erkrankungen eine bakterielle Meningitis als Todesursache. Marie-Anna Jonas bestieg mit den Herbsttransporten des Jahres 1944 den Zug nach Auschwitz und kehrte nicht zurück. Esther wurde zunächst nach Auschwitz und später weiter nach Mauthausen verbracht, wo sie die Befreiung des Lagers erlebte.

Im Juli 2022 konnten wir das Buch mit Marie-Anna Jonas‘ Besitzvermerk an ihren einzigen Enkel und Sohn ihrer Tochter Esther aushändigen.

 

 

 

Dank

Für die freundliche Unterstützung bei der Recherche danken wir Maria Koser (Geschichtswerkstatt Eppendorf) sowie Dr. Anna von Villiez (Gedenk- und Bildungsstätte Israelitische Töchterschule).

 

 

Ausgewählte Literatur

Althaus, Andrea und Linde Apel, Erzählte Geschichte – geschichtete Erzählung. Zu den lebensgeschichtlichen Interviews mit der Holocaust-Überlebenden Esther Bauer, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-2.de.v1>

Heinsohn, Kirsten: Das jüdische Hamburg. Ein historisches Nachschlagewerk, Göttingen 2006.

Randt, Ursula: Carolinenstraße 35. Geschichte der Mädchenschule der Deutsch-Israelitischen Gemeinde in Hamburg 1884-1942, Hamburg 1984.

Dies.: Die Talmud Tora Schule in Hamburg. 1805 bis 1942, München/Hamburg 2005.

Steinhäuser, Frauke u.a.: Stolpersteine in Hamburg Grindel II. Biographische Spurensuche, Hamburg 2017.

Wamser, Ursula und Wilfried Weinke (Hg.): Eine verschwundene Welt. Jüdisches Leben am Grindel, Springe 2006.

 

 

Ärztinnen im Kaiserreich (Dokumentation der Charité):

https://geschichte.charite.de/aeik/biografie.php?ID=AEIK01021

Stolpersteine Hamburg (Anna-Marie und Alberto Jonas, Wodlsenweg 5):

https://www.stolpersteine-hamburg.de/index.php?MAIN_ID=7&BIO_ID=310

Artikel zur Benennung des Marie-Jonas-Platz in Eppendorf (Statteilarchiv und Kulturhaus Eppendorf):

https://kulturhaus-eppendorf.de/08stadtteilarchiv-3.html

Zum Tod von Esther Bauer (Der Spiegel):

https://www.spiegel.de/panorama/leute/hamburger-holocaust-ueberlebende-esther-bauer-gestorben-a-1122375.html

 

 

(Text: Ph. Zschommler)

Letzte Änderung: 29.10.2022