Lea Neumann, geb. Zucker

 

 

Jiskor I

Titelblatt von "Jiskor! Buch der Erinnerung"

 

 

Jiskor II

Beispiel eines Jahrzeit-Eintrags zum Seelengedenken des verstorbenen Vaters von Leo Neumann, Meier Kallmann Neumann

 

 

Jiskor III

Notizen zu weiteren verstorbenen Verwandten, unter anderem zu Leas Ehemann Leo (fälschlicherweise 1837 anstatt 1937)

 

Neumann family

Familientreffen, ca. 1920 (?)

Wally Grünbaum, geb. Neumann (2.v.l.), Lea Neumann (7.v.l.) und Leo Neumann (10. v.l.)

Quelle: Leo Baeck Institute New York, George Garrington Collection, AR 25819 (box 3, folder 3)

 

 

(Jaraczewo 1875 - Auschwitz 1943)

 

„Jiskor! Buch der Erinnerung“ ist ein schmaler Band betitelt, der sofort nach seiner Inventarisierung in unserer Bibliothek wieder in Vergessenheit geraten ist. Seinem fragilen Zustand ist es wohl zuzuschreiben, dass er seit über 35 Jahren unbeachtet im Magazin stand. Kaum ein Buch aus unserem Bestand enthält so zahlreiche familiäre Daten wie dieses und die Rückgabe an die Nachkommen der letzten Eigentümerin ermöglicht es ihnen nun wieder, an die mit dem Buch verbundene Tradition des Gedenkens anzuknüpfen. Als historisches Zeugnis der Shoa erschließt es zudem eine weitere Ebene des Erinnerns, die über das familiäre Gedenken hinausgeht.

Das Buch, gedruckt 1894 in Berlin, enthält Gebete und Erläuterungen zu den religiösen Praktiken im Zusammenhang mit den Todestagen der Verstorbenen. Im hinteren Teil befinden sich vorgedruckte Tabellen, in die die Trauernden die Namen der Verstorbenen sowie die Todestage eintragen konnten und dies auch getan haben. Die Jahrestage des Ablebens, auch Jahrzeit genannt, werden im Judentum entsprechend des jüdischen Kalenders berechnet. So ist es notwendig, wenn im Alltag der bürgerliche Kalender Anwendung findet, die Jahrestage für jedes Jahr als gregorianisches Datum zu bestimmen. Dafür gab es entsprechende Tabellen bzw. Umrechnungsformeln oder man ließ sich von kundiger Seite dabei unterstützen.

Auf den ausgefüllten Seiten lesen wir wie folgt:

Jahrzeit meiner sel. geliebten Mutter Minna Zucker gestorben den 10. April 1916, hebräisches Datum den 7. Nissan 5676 ruht an d. Seite uns. geliebten Vaters, Feld W. 14 Reihe 32326 [es folgt eine Auflistung der Jahrzeiten von 1917 bis 1960]

Jahrzeit meines sel. Bruders Isaak Neumann, gestorben den 11. Mai 1909, hebräisches Datum den 20. Ijar 5669, Grab No. 289 [Es folgt eine Auflistung der Jahrzeiten von 1917 bis 1960]

Jahrzeit meines sel. Vaters Salomon Zucker gestorben den 16. September 1907, hebräisches Datum den 8. Tischri 5668, Feld W. 14 Reihe 32325 [Es folgt eine Auflistung der Jahrzeiten von 1908 bis 1957]

Jahrzeit meines sel. Vaters Meier Kallmann Neumann gestorben den 29. Juli 1904, hebräisches Datum den 17. Ab 5661[?] [Es folgt eine Auflistung der Jahrzeiten von 1905 bis 1954]

Neben der Nennung der Namen finden sich die Sterbedaten beider Kalendersysteme, die Gedenktage für die darauffolgenden 50 Jahre sowie Vermerke über die Grabstellen, die wir dem Friedhof in Berlin-Weißensee zuweisen können. Auf den letzten beiden Seiten des Buches wurden die Namen weiterer Familienangehöriger vermerkt und deren Grabstellen in Weißensee bezeichnet. Der letzte Eintrag stammt aus dem Jahr 1939, was bedeutet, dass das Buch über einen Zeitraum von über 35 Jahren aktiv in Gebrauch war. Anhand weiterer Nutzungsspuren können wir sogar mutmaßen, dass das Buch bei den regelmäßigen Besuchen der Grabstätten mitgeführt worden war. Denn die am intensivsten abgegriffenen Seiten enthalten die Gebete, die am Grab gesprochen werden.  

Die aufscheinenden Namen legen nahe, wer die Eigentümer des Buches waren – es handelte sich um das Berliner Ehepaar Lea Neumann, geb. Zucker (geboren im polnischen Jaraczewo) und Leo (Froim) Neumann (geboren im polnischen Chorzele). Im Jahr 1899 verlobten sich beide in Jaraczewo und die Heirat fand im Oktober desselben Jahres in Berlin statt. Möglicherweise erhielt das junge Ehepaar das Buch zu diesem Anlass. Ihr einziges Kind – Wally Neumann – wurde im Jahr 1901 geboren. Zu dieser Zeit wohnte die Familie in der Berliner Chausseestraße 67. In einigen Dokumenten wird Leo Neumann als Kaufmann genannt, doch jenseits der amtlichen Meldedaten liegen uns bisher nur wenige weitere Hinweise zur Familie vor.

Wally Neumann heiratete 1920 den Fabrikanten Erich Grünbaum. Aus der Ehe, die bereits 1929 wieder geschieden wurde, gingen zwei Söhne hervor, Emil (geb. 1922) und Georg (geb. 1923). Nachdem Wallys Vater Leo 1937 verstorben war (Lea Neumann vermerkte sein Ableben im Jiskor-Buch ebenfalls), wohnte Wally vermutlich bei Ihrer Mutter. Für sich selbst uns ihren Sohn Georg beantragte Wally 1938 ein Visum zur Ausreise in die USA. Emil konnte vermutlich zu diesem Zeitpunkt das Land bereits verlassen. Er verstarb 2015 in Israel. Letztendlich war es ein Kindertransport, mit dem Georg zunächst nach England gelangte. 1954 wanderte er in die USA aus und nannte sich George Garrington. Sein Nachlass im New Yorker Leo Baeck-Institute - er starb 2014 - enthält bewegende Schriftwechsel mit seiner Mutter, die ihm auch Photos schickte. Sie selbst kümmerte sie sich währenddessen um ihre Mutter Lea und verdiente ihren Unterhalt womöglich mit medizinischer Fußpflege, zumindest belegt ein Diplom (heute ebenfalls im Leo Baeck-Institute), dass Sie 1938 einen entsprechenden Kurs bei der Medizinerin Dr. Betty Wiener abgelegt hatte.

Am 14. September 1942 wurde Wallys Mutter Lea mit einem sogenannten Alterstransport nach Theresienstadt gebracht. Es ist anzunehmen, dass sie das Jiskor-Buch mitgeführt hatte und es zurücklassen musste, als sie im Dezember 1943 von dort nach Auschwitz deportiert wurde. Wally wurde im Februar 1943 direkt von Berlin nach Auschwitz in den Tod geschickt.

Im Jahr 2023 konnten wir das Buch an die Nachkommen Emil (Ephraim) Grünbaums zurückführen, die es zusammen mit weiteren Familiendokumenten den Yad Vashem Archives überlassen möchten.

 

Dank

Für die Unterstützung bei der Recherche danken wir Shulamit Rosenthaler vom israelischen Magen David Adom, Dr. Hermann Teifer vom Leo Baeck-Institute New York sowie Carole Meyers, die George Garrington in seinen letzten Jahren unterstützt und seinen schriftlichen Nachlass für die Nachwelt erhalten hat.

 

Quellen

Link zum Buch in der Datenbank Looted Cultural Assets

Transportliste und Daten zur Deportation, Lea Neumann

George Garrington Collection, Leo Baeck-Institute New York

Förderverein Jüdischer Friedhof Weißensee

In der Datenbank Ancestry.de finden sich diverse amtliche Meldedaten (z.B.: Heirat Leo/Froim Neumann und Lea Neumann, geb. Zucker, Geburt Wally Neumann, Heirat und Scheidung Erich Grünbaum und Wally Grünbaum, geb. Neumann)

Insbesondere die Datenbanken MyHeritage.de und Geni.com enthalten relevante Informationen zu den Verwandtschaftsbeziehungen

Dokumente zur Deportation von Wally Grünbaum in den Arolsen Archives

Aufgebot/Vermisstenanzeige von Wally Grünbaum und Lea Neumann, in: Neues Deutschland vom 22.01.1949, Seite 6

 

 

 

(Text: Ph. Zschommler)

Letzte Änderung: 10.07.2023