Lebenswelt und Diskurs - Konzept

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Projektleiter:

Prof. Dr. Ronen Reichman

HfJS
Landfriedstraße 12
69117  Heidelberg

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Mitarbeiter:

Dr. Asher Mattern

E-Mail: asher.mattern@hfjs.eu

 

Vladislav Zeev Slepoy, M.A.

E-Mail: vladislav.slepoy@hfjs.eu

 

 

 

Wandel jüdischer Traditionen

im Wechselspiel von Lebenswelt und Diskurs

Problemstellung und Forschungskonzept

 

(Prof. Dr. Ronen Reichman, Dr. Asher Mattern, Dr. Vladislav Slepoy)

 

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Im Rahmen der an der Hochschule für Jüdische Studien geplanten Bildung einer wissenschaftlicher Nachwuchsgruppe wird ein neuer Forschungsansatz zur Untersuchung von Wandlungsprozessen der jüdischen Traditionen erarbeitet, der es ermöglichen soll, diese Prozesse in ihrer historischen und strukturellen Vielfältigkeit aus einer neuen methodologischen Perspektive in den Blick zu nehmen. Es geht dabei darum,  die bisher gängigen Forschungsansätze der Jüdischen Studien durch die Aufnahme von Perspektiven aus der modernen sozialwissenschaftlichen und philosophischen Forschung zu ergänzen zu erweitern und zugleich in Bezug auf das hier bearbeitete Themenfeld zu präzisieren. Die Forschungsgruppe geht davon aus, dass eine zeitgemäße Erforschung von Wandlungsprozessen der jüdischen Traditionen in ihrer Diversität eine methodische Neuorientierung der Jüdischen Studien nicht nur ermöglicht, sondern eine solche dringend erfordert. Tatsächlich wurde bisher bestenfalls in Ansätzen der Versuch unternommen, Begriffe und Methoden sozialwissenschaftlicher Disziplinen konsequent und theoretisch begründet auf die Erscheinungen innerhalb des Judentums anzuwenden. Die Bildung der Nachwuchsgruppe an der Hochschule für Jüdische Studien kann und soll deshalb als ein Versuch verstanden werden, die Horizonte der „Jüdische Studien“ zu erweitern und durch ihre theoretische Öffnung für aktuelle sozial- und kulturwissenschaftliche Methoden und Problemstellungen in höherem Maße für andere aktuelle Forschungsperspektiven anschlussfähig und sie so interdisziplinär leichter vernetzbar werden zu lassen.

Untersuchungen zur Rekonstruktion von spezifischen Traditionsbildungsprozessen gehen zumeist von der Prämisse aus, dass die Entstehung von Traditionen die Folge einer adäquaten Übertragung und Umsetzung des tradierten Wissens angesichts neuer Lebensverhältnisse und neuer Herausforderungen sei. Nimmt man die intersubjektive Dimension der in diese Traditionsbildungsprozesse eingebundenen Akteure in den Blick, so stellt man fest, dass sich die Dynamik der Anpassung altbewährter Traditionen auf die jeweiligen Herausforderungen einer sozialen Gegenwart erheblich komplexer darstellt als bei ihrer Betrachtung aus dem „klassisch“-hermeneutischen Blickwinkel. Um ein adäquates Bild dieser Prozesse zu ermöglichen, ist es nötig, die diskursiven Verhandlungen, die zum Bestandteil dieser Dynamik gehören, auf ihre strukturelle und möglicherweise konstitutive Rolle im Traditionsbildungsprozess zu befragen.

Im Fokus der kommunikativen Verhandlungen über erforderliche Traditionsänderungen stellt sich stets die Frage nach der Akzeptabilität dieser Änderungen. Aus diesem Grunde artikulieren die im Prozess der Traditionsbildung involvierten Akteure Stellungnahmen, deren Geltungsansprüche überprüft werden. Debattieren die Akteure in diskursiven Prozessen miteinander über die Gültigkeit von strittigen Traditionen, so geht die Tiefe und Vielfalt der Argumente, die hierbei ins Feld geführt werden, z.T. – etwa oder insbesondere in der rabbinischen Debattenkultur – weit über Fragen nach dem bloßen Sinn der jeweiligen Überlieferung hinaus. Es geht in entscheidender Weise zumindest auch um die Bereitschaft, geltende Traditionen aufgrund neuer Lebensumstände zu ändern.

Eine in diesem Sinne anzustrebende Revision des methodologischen Standpunktes sollte den Stellenwert, der einer diskursiven Verständigung zwischen den in solchen Normativierungsprozessen wirkenden Akteuren zukommt, eigens thematisieren. Damit wird einer positivistischen Engführung der Forschung der Traditionsbildungsprozesse, die den für solche Prozesse relevanten argumentativ-diskursiven Aspekten nicht nachgeht, entgegengewirkt, womit ein wichtiger Beitrag zur wissenschaftlichen Profilierung der Jüdischen Studien geleistet werden kann. Aus der vielleicht etwas naiven, geschichtsphilosophisch zu optimistischen Annahme, dass die Anpassungsleistungen durch die in Wandlungsprozesse eingebundenen Akteure zuweilen auf eine Weise erbracht werden, in der sie auf den „systemintern“ entstandenen Druck so reagieren, dass sie sich auf ausdrückliche Geltungsdiskussionen einlassen und mittels überzeugungskräftiger Argumente die Traditionsbildung effektiv beeinflussen, leitet sich das wissenschaftliche Desiderat ab, ein methodologisches Konzept herauszuarbeiten, das diesem Umstand in differenzierter Weise Rechnung trägt. Keineswegs darf der Ansatz von dem Postulat bestimmt sein, dass eine auf Diskursen basierte Traditionsbildung dank der Überzeugungskraft von begründeten Stellungnahmen zu strittig gewordenen Traditionen im Sinne einer einfachen Kausalität zu ihrer Änderung führt. Die methodologische Orientierung ist vielmehr dahingehend auszurichten, dass die Verhandlungsprozesse in ihrer der Traditionsbildung zukommenden Gewichtung berücksichtigt werden. Es geht dabei sowohl darum zu zeigen, wie „Diskurse“ durch die Kraft des besseren Arguments ihren positiven Beitrag zur Transformation der Tradition leisten sowie grundsätzlich den Stellenwert von Diskurs in solchen Wandlungsprozessen zu erfassen, als auch darum zu erhellen, wie und vor welchem Hintergrund und in welchen Abhängigkeiten die jeweiligen Diskurse selbst sich entwickeln.

Statt Diskurse also schlicht als Ursache für die Veränderung von Traditionen anzusehen, zielt der hier verfolgte methodische Ansatz darauf, diese Veränderungen aus dem Wechselspiel zwischen einer je traditionell geprägten Lebenswelt und den aus dieser heraus sich entwickelnden Diskursen zu deuten. Es sei im Folgenden kurz erläutert, wie dabei die Begriffe Lebenswelt und Diskurs sowie das Wechselspiel beider zu verstehen sind.

Der Begriff der Lebenswelt entstammt dem Spätwerk Husserls, der mit ihm „die raumzeitliche Welt der Dinge, so wie wir sie in unserem vor- und außerwissenschaftlichen Leben erfahren und über die erfahrene hinaus als erfahrbar wissen“, bezeichnete. Es ging Husserl mit diesem Begriff gewissermaßen um die Anamnese des alltäglich und fraglos Gegebenen, das jeder problematisierenden, reflexiven Haltung und damit auch jeder wissenschaftlich-objektivierenden Näherung an uns in der Welt und als Welt begegnende Phänomene vorausliegt und damit für diese zugleich konstitutive Bedeutung hat. Als entscheidend für das hier entwickelte Forschungskonzept seien hier insbesondere die Weiterentwicklungen des Lebensweltbegriffes in soziologischen Kontexten durch Alfred Schütz und Thomas Luckmann sowie vor allem die darauf fußende kommunikationstheoretische Interpretation des Begriffs Lebenswelt von Jürgen Habermas genannt, der gegen mögliche kulturalistische Verkürzungen die Vieldimensionalität dieses Begriffs betont hat. Aufbauend auf den Untersuchungen der genannten Autoren soll der Begriff der Lebenswelt im Rahmen des Forschungsvorhabens in folgendem Sinne gefasst werden: Mit Lebenswelt wird die ursprüngliche, aus fraglos gegebenen Sinnressourcen bestehende Dimension der personalen, interpersonalen, sozialen und kulturellen Wirklichkeit bezeichnet, die sich durch alltagsweltliche Praktiken und Interaktionen als wesenhaft unthematisierter Universalhorizont menschlicher Erfahrung konstituiert und reproduziert und jedem konkreten menschlichen Fühlen, Denken, Sprechen und Handeln vorausliegt und deren Möglichkeitsraum so öffnet und konstitutiert.

Als Komplementärbegriff zur Lebenswelt hat Habermas das „kommunikative Handeln“ herausgestellt, da Menschen ihr Handeln „lebensweltlich“ kommunikativ koordinieren, d.h. einerseits gehören kommunikative Akte selbstverständlich und nicht eigens problematisiert der Lebenswelt an, andererseits erhebt sich ihr Sinn aus dem lebensweltlich geteilten Wissen, dessen Geltung stillschweigend hingenommen wird. Vor dem Hintergrund der Komplementarität von Lebenswelt und kommunikativem Handeln bezeichnet der Diskurs bei Habermas nun ein spezifisches kommunikatives Handeln, in dem lebensweltliche Aspekte aus ihrer Selbstverständlichkeit gelöst und ausdrücklich thematisiert werden. Bezeichnet Habermas Diskurse also als kommunikative Handlungen, in denen lebensweltliche Aspekte problematisiert und hinsichlich ihrer Geltung befragt werden, so sind sie für ihn doch in einer Weise in der Lebenswelt verankert, die die Verständigungsorientierung ihrer kommunikativen Akte bewahrt. Habermas bestimmt Diskurse deshalb als kommunikative Handlungen, die Geltungsfragen wahrheitsorientiert zur Klärung zu bringen suchen.

Diese Definition von Diskursen über ihre Verständigungs- und Wahrheitsorientierung wurde von Philosophen und Soziologen als idealisierend und realitätsfremd charakterisiert. Bezeichnet der „Diskurs“ nach Habermas jene Kommunikationsform, in der die sedimentierten, in der Alltagswelt als gültig hingenommenen und in Performanz erfahrbaren Sinn- und Wissensvorräte auf ihren Geltungsanspruch hin thematisiert werden, so ist damit  noch nicht ausgemacht, in welchem Verständigungsmodus die Verhandlunge über strittig gewordenen Geltungsfragen geführt werden. Insofern Diskurse sich aus lebensweltlichen Bezügen erheben, in denen es immer zumindest auch um Interessen, Durchsetzung und Macht gehe, sei ein an Foucaults kritischer Perspektive orientierter Diskursbegriff zur Analyse realer Diskurse angemessener. Mit der Aufnahme dieser kritischen Perspektive verbindet sich auch die Einsicht in die relative Eigenständigkeit, die dem Diskurs als soziales organisiertes Gefüge von unterschiedlichen Praktiken gegenüber der Lebenswelt zukommt. Zwischen seiner lebensweltlichen Bedingtheit und einer wohl kaum je in Reinform erreichbaren Wahrheitsorientierung bildet der Diskurs dabei ein kulturspezifisches, soziales und intersubjektiv operierendes Ensemble von z.T radikal unterschiedlich ausgerichteten Praktiken, die zusammen eine institutionalisierte Form von Wissensproduktion darstellen. Doch auch wenn dieser Form der Wissensproduktion so wahrheitsferne Funktionen wie u.a. Interessendurchsetzung, Machterwerb, soziale Kontrolle, Identitätsstiftung, Manipulation als ihr wesentlich zuzuschreiben sind, bleibt sie als diskursive Praxis dennoch so intersubjektiv strukturiert und auf die Lebenswelt bezogen, dass sie als Kommunikationsform grundsätzlich das Potential in sich birgt, strittige Geltungsansprüche auf ihre Begründung hin im verständigungsorientiertem Modus zu überprüfen.

Lebenswelt und Diskurs bilden somit ein zirkuläres Verhältnis: Die Lebenswelt bildet den Sinnhorizont, der kommunikative Handlungen im Allgemeinen und Geltungsfragen verhandelnde Diskurse im Besonderen trägt und ermöglicht, sie wird aber gleichzeitig selbst durch diese in eine grundlegende Dynamik versetzt. Diskurse können diese Dynamik radikalisieren und lebensweltliche Konktexte durch ihre Debatten legitimieren, stabilisieren, erneuern, subvertieren und zerrütten, ohne sich dabei doch außerhalb ihrer zu situieren bzw. ihre Abhängigkeit von diesen Kontexten tilgen zu können. In und aus diesem Wechselspiel von Lebenswelt und Diskurs sind Traditionen in der ihnen eigenen Dynamik und ihrem langsamen, schnelleren oder gar – in besonderen Situationen – abrupten Wandel zu verstehen: Traditionen sind zu verstehen als das prinzipiell bewegliche Resultat der komplexen Wechselwirkung zwischen dem implizit gültigen lebensweltlichen Sinnhorizont und jenem Wissen und jenen Haltungen, jenen Verhaltensmustern und jenen Werten, die sich unter Rechtfertigungszwang auf der Ebene des Diskurses bewähren müssen.

Forschungen zu Wandlungsprozessen in der jüdischen Tradition im Rahmen der Nachwuchsgruppe sollen den durch das Annahme eines Wechselspiels von Lebenwelt und Diskurs vorgegebenen konzeptionellen Rahmen und die damit vorgegebene methodische Perspektive nutzen und dabei zugleich deren Fruchtbarkeit für den Bereich der jüdischen Studien überprüfen. Der Wandel jüdischer Traditionen sollte in der Nachwuchsgruppe also im Sinne einer lebensweltorientierten Diskursanalyse geführt werden, d.h. Diskurse sollten einerseits als konstitutiv für den Wandel lebensweltlicher Kontexte und der diese bestimmenden Traditionen untersucht, gleichzeitig aber in ihren Verhandlungen von Geltungsfragen aus den lebensweltlichen Kontexten interpretiert werden.

Letzte Änderung: 01.09.2015